(1) Die Rechtshängigkeit der Restrukturierungssache oder die Inanspruchnahme von Instrumenten des Stabilisierungs- und Restrukturierungsrahmens durch den Schuldner ist ohne Weiteres kein Grund

  1. für die Beendigung von Vertragsverhältnissen, an denen der Schuldner beteiligt ist,
  2. für die Fälligstellung von Leistungen oder
  3. für ein Recht des anderen Teils, die diesem obliegende Leistung zu verweigern oder die Anpassung oder anderweitige Gestaltung des Vertrags zu verlangen.

Sie berühren ohne Weiteres auch nicht die Wirksamkeit des Vertrags.

(2) Dem Absatz 1 entgegenstehende Vereinbarungen sind unwirksam.

(3) Die Absätze 1 und 2 gelten nicht für Geschäfte nach § 104 Absatz 1 der Insolvenzordnung und Vereinbarungen über das Liquidationsnetting nach § 104 Absatz 3 und 4 der Insolvenzordnung und Finanzsicherheiten im Sinne von § 1 Absatz 17 des Kreditwesengesetzes. Dies gilt auch für Geschäfte, die im Rahmen eines Systems nach § 1 Absatz 16 des Kreditwesengesetzes der Verrechnung von Ansprüchen und Leistungen unterliegen.


1

Durch die Regelungen des § 44 wird verhindert, dass Vertragspartner des Schuldners den Sanierungserfolg des Restrukturierungsvorhabens durch die Ausübung von Rechten in Bezug auf den Vertrag gefährden oder verhindern. Dazu bestimmt die Norm, dass allein die Anzeige einer Restrukturierungssache oder die Inanspruchnahme von Instrumenten des Stabilisierungs- und Restrukturierungsrahmens durch den Schuldner keinen Grund für die dort genannten Gestaltungsrechte oder ein Leistungsverweigerungsrecht der Vertragspartner darstellen und auch nicht ohne Weiteres die Wirksamkeit des Vertrages berühren. Ein Grund für derartige Rechte des Vertragspartners kann auch nicht durch eine entsprechende vertragliche Vereinbarung geschaffen werden, denn entgegenstehende Vereinbarungen sind nach Abs. 2 unwirksam. Vertragsklauseln, die nicht nur an die Anzeige einer Restrukturierungssache oder die Inanspruchnahme von Instrumenten, sondern zusätzlich an weitere Gründe anknüpfen, wie insbesondere einen Verzug des Schuldners oder eine sonstige Leistungsstörung, bleiben zulässig (vgl. auch Begr. RegE, BT-Drs. 19/24181, S. 146). Die gleiche Zielrichtung verfolgt § 55, der im Fall einer Stabilisierungsanordnung § 44 um weitergehenden Einschränkungen in Bezug auf vertragliche Leistungsverweigerungs-, Vertragsbeendigungs- und -abänderungsrechte ergänzt (siehe dazu die Kommentierung von § 55 Rn. 3).

2

§ 44 ist strukturell und teleologisch mit § 119 InsO verwandt, der Vereinbarungen, durch die im Voraus die Anwendung der §§ 103 bis 118 InsO ausgeschlossen oder beschränkt wird, für unwirksam erklärt (Heckschen/Weitbrecht, NZI 2020, S. 976, 967; Thole ZIP 2020, S. 1985, 1993). Die Norm setzt Art. 7 Abs. 5 RL 2019/1023 um, demzufolge weder die Beantragung oder Eröffnung von Verfahren des präventiven Restrukturierungsrahmens, noch insbesondere die Gewährung einer Aussetzung der Einzelzwangsvollstreckung den Anknüpfungspunkt für vertragliche Klauseln bieten darf, die es den Gläubigern des Schuldners ohne Weiteres erlauben, sich vom Vertrag zu lösen, diesen zu gestalten, Leistungen fällig zu stellen oder zu verweigern (vgl. auch Begr. RegE, BT Drs. 19/24181, S. 146).

3

Der Tatbestand des § 44 Abs. 1 ist erfüllt, wenn eine Restrukturierungssache rechtshängig ist (dazu Rn. 8) oder der Schuldner Instrumente des Stabilisierungs- und Restrukturierungsrahmens in Anspruch nimmt (dazu Rn. 9), ohne dass zugleich weitere Anknüpfungspunkte für die Einwirkung auf den Bestand der Verträge mit dem Schuldner oder die Rechte daraus vorliegen (dazu Rn. 10). Die Rechtsfolgen der Norm beziehen sich nur auf Verträge des Schuldners, so dass das Bestehen eines Vertragsverhältnisses, das nicht nach Abs. 3 ausgenommen ist, als weiteres Tatbestandsmerkmal gesehen werden kann (dazu Rn. 4 f.).

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Der Anwendungsbereich des § 44 beschränkt sich auf Vertragsverhältnisse, an denen der Schuldner beteiligt ist. Dies ergibt sich für die in den Nrn. 1 bis 3 des Abs. 1 S. 1 genannten Gestaltungsrechte aus dem Wortlaut der Nr. 1 und der der Bezugnahme darauf in Nr. 3 („des Vertrages“) und für den Bestand der Verträge aus der gleichen Bezugnahme auf die Beschreibung des Vertrages in Abs. 1 S. 1 Nr. 1 in Abs. 1 S. 2.

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Nach Abs. 3 sind davon Geschäfte ausgenommen, die den Gegenstand einer Vereinbarungen über das Liquidationsnetting i. S. d. § 104 Abs. 3 und 4 InsO bilden können. Erfasst sind damit nicht nur das Liquidationsnetting selbst, sondern sämtliche Warentermin- und Finanzgeschäfte nach § 104 Abs. 1 InsO, einschließlich der Finanzsicherheiten i. S. d. § 1 Abs. 17 KWG sowie Geschäfte, die im Rahmen eines Systems nach § 1 Abs. 16 KWG der Verrechnung von Ansprüchen und Leistungen unterliegen. 

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Die Ausnahmeregelung in Abs. 3 dient der Umsetzung der Vorgaben aus der Finanzsicherheitenrichtlinie 2002/47/EG und der Finalitätsrichtlinie 1998/26/EG (vgl. BT-Drs. 19/24181, S. 147), welche die Gewährleistung des freien Dienstleistungs- und Kapitalmarktverkehrs im Finanzbinnenmarkt zum Gegenstand haben (MüKo-InsO/Haarmeyer/Schildt, § 21 Rn. 104). Nach der Gesetzesbegründung soll darüber hinaus die durch Abs. 3 sichergestellte Restrukturierungsfestigkeit des Liquidationsnettings die Unsicherheiten über die Durchführung oder Beendigung der genetteten Warentermin- und Finanzgeschäfte vermieden werden (vgl. BT-Drs. 19/24181, S. 147). Abs. 3 nimmt die dort genannten Geschäfte von der Privilegierung der Restrukturierungsvorhaben aus, indem sie nicht dem Verbot von Lösungsklauseln und der Unwirksamkeitsfolge unterliegen. Dadurch soll gewährleistet werden, dass diese Geschäfte ungeachtet von Restrukturierungs- und Stabilisierungsmechanismen nach den für sie getroffenen Reglungen durchgeführt oder beendet werden können. 

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Der sachliche Anwendungsbereich des Abs. 3 entspricht demjenigen des § 56 Abs. 1 S. 1, Abs. 2 S. 2 (vgl. Rn. 2-4 zu § 56), welcher ebenfalls der Umsetzung der vorgenannten Richtlinien dient. Finanzsicherheiten werden nach der Gesetzesbegründung zu § 44 nicht nur dann erfasst, wenn sie in einem Sicherungszusammenhang mit Geschäften nach § 104 Abs. 1 InsO stehen, sondern auch dann, wenn sie andere Forderungen sichern (BT-Drs. 19/24181, S. 147).

 

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Das erste der beiden alternativ möglichen Tatbestandsmerkmale des § 44 ist die Rechtshängigkeit der Restrukturierungssache. Sie tritt nach § 31 Abs. 3 mit der Anzeige des Restrukturierungsvorhabens bei dem zuständigen Restrukturierungsgericht ein. Dafür kommt es nicht darauf an, ob der Anzeige die nach § 31 Abs. 2 erforderlichen Informationen und Unterlagen beigefügt sind (Morgen-Präventive Restrukturierung/Hirschberger/Siepmann, § 31; a. A. Wöhren§ 31 Rn. 10).

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Alternatives Tatbestandsmerkmal ist die Inanspruchnahme eines Instruments des Stabilisierungs- und Restrukturierungsrahmens. Diese Instrumente sind in § 29 Abs. 2 abschließend genannt. Es handelt sich um die gerichtliche Planabstimmung, die Vorprüfung des Restrukturierungsplans, die Stabilisierungsanordnung und die gerichtliche Planbestätigung. Es ist ausreichend, dass der Schuldner nur eines dieser Instrumente in Anspruch nimmt. Nach der Vorstellung des Gesetzgebers fällt unter den Begriff der Inanspruchnahme nicht nur die Gewährung der unter dem jeweiligen Instrument begehrten Verfahrenshilfe, sondern auch schon der darauf gerichtete Antrag des Schuldners (BT-Drs. 19/24181, S. 146). Das entspricht auch dem Zweck der Regelung und wird durch Art. 7 Abs. 5 RL 2019/1023, der mit § 44 in nationales Recht umgesetzt wird, für die Aussetzung von Einzelvollstreckungsmaßnahmen (Stabilisierungsanordnung) auch ausdrücklich gefordert.

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Die Rechtsfolgen des § 44 treten schließlich nur dann ein, wenn neben der Rechtshängigkeit der Restrukturierungssache oder der Inanspruchnahme eines Instruments keine weiteren Gründe („Anknüpfungspunkte“) vorliegen, die Auswirkungen auf den Bestand des Vertrages oder die Rechte des Vertragspartners daraus haben können. Durch die Norm wird so nur verhindert, dass allein die Rechtshängigkeit der Restrukturierungssache oder die Inanspruchnahme von Instrumenten zu für die Sanierung nachteiligen Folgen auf die Verträge des Schuldners führt oder führen kann. Damit wird dagegen nichts für den Fall geregelt, dass neben den genannten Tatbestandsmerkmalen weitere Gründe vorliegen. Daraus folgt, dass die Rechtshängigkeit der Restrukturierungssache oder die Inanspruchnahme eines Instruments dann Auswirkungen auf Verträge mit dem Schuldner haben können, wenn zusätzliche Gründe dafür hinzutreten. Solche Gründe können insbesondere ein Verzug des Schuldners oder eine sonstige Leistungsstörung sein (BT-Drs. 19/24181, S. 146). Befindet sich der Schuldner z. B. mit einer Zahlungsverpflichtung derart in Verzug, dass der Vertragspartner zur Kündigung berechtigt ist, stellt dies einen weiteren Grund in diesem Sinne dar. Der Vertragspartner kann dann den Vertrag kündigen, auch wenn der Schuldner eine Restrukturierungssache angezeigt hat oder ein Instrument in Anspruch nimmt.

11

Eine wesentliche Verschlechterung der Vermögensverhältnisse des Schuldners, die den Darle-hensgeber nach § 490 Abs. 1 BGB zur Kündigung berechtigt, ist ein weiteres Beispiel für einen über die Rechtshängigkeit der Restrukturierungssache oder die Inanspruchnahme eines Instrumentes hinausgehender Grund in diesem Sinne. § 44 Abs. 1 sperrt daher nicht das Kündigungsrecht aus § 490 Abs. 1 BGB, wenn der Schuldner eine Restrukturierungssache angezeigt hat. Auch sind Vertragsklauseln, die andere Rechte des Vertragspartners an die wesentliche Verschlechterung der Vermögensverhältnisse des Schuldners knüpfen, nicht nach § 44 Abs. 2 unwirksam (so auch Desch, BB 2020, S. 2498, 2502; Gehrlein, BB 2021, S. 66, 75).

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Nach zutreffender Auffassung ist die drohende Zahlungsunfähigkeit i. S. d. § 18 Abs. 2 InsO dagegen kein weiterer Grund in diesem Sinne (Heckschen/Weitbrecht, NZI 2020, S. 976, 967; Thole, ZIP 2020, S. 1985, 1994). Die drohende Zahlungsunfähigkeit ist nach § 29 Abs. 1 die Voraussetzung der Inanspruchnahme der Instrumente des präventiven Restrukturierungsrahmens und damit der Anzeige der Restrukturierungssache. Sie ist daher den in § 44 Abs. 1 genannten Tatbestandsmerkmalen immanent und stellt schon deswegen keinen weiteren Grund dar.

13

Wenn also z. B. eine Restrukturierungssache rechtshängig ist und der Schuldner drohend zahlungsunfähig ist, treten die Rechtsfolgen des § 44 ein: Allein deswegen werden seine Verträge nicht unwirksam und es bestehen keine Rechte des Vertragspartners zur Einwirkung auf den Vertrag. Zudem sind auch Vertragsklauseln nach § 44 Abs. 2 unwirksam, nach denen ein Vertrag mit dem Schuldner unwirksam wird oder gekündigt werden kann, wenn der Schuldner drohend zahlungsfähig und eine Restrukturierungssache anhängig ist (a.A. Desch, BB 2020, S. 2498, 2502, der wohl sogar von der Unwirksamkeit einer Lösungsklausel ausgeht, die auf die drohende Zahlungsunfähigkeit abstellt).

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Sind die tatbestandlichen Voraussetzungen des § 44 erfüllt, knüpfen sich daran verschiedene Rechtsfolgen. Nach Abs. 1 ist allein die Rechtshängigkeit der Restrukturierungssache oder die Inanspruchnahme von Instrumenten kein Grund für die in den Nrn. 1 bis 3 genannten Einwirkungen auf Verträge des Schuldners und deren Unwirksamkeit (Abs. 1 S. 2). Abs. 2 enthält die weitergehende Rechtsfolge, dass dem Abs. 1 entgegenstehende Vereinbarungen unwirksam sind.

15

Abs. 1 S. 2 stellt klar, dass die Wirksamkeit von Verträgen des Schuldners nicht ohne Weiteres berührt wird. Die Anzeige der Restrukturierungssache und die Inanspruchnahme von Instrumenten allein haben also keinen Einfluss auf den Bestand der Verträge des Schuldners.

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Nach Abs. 1 S. 1 Nr. 1 ist die Rechtshängigkeit der Restrukturierungssache oder die Inanspruchnahme von Instrumenten des Stabilisierungs- und Restrukturierungsrahmens durch den Schuldner ohne Weiteres auch kein Grund für die Beendigung von Vertragsverhältnissen, an denen der Schuldner beteiligt ist. Der Gesetzgeber hat in dieser Hinsicht bei der Umsetzung des Art. 7 Abs. 5 RL 2019/1023 eine weitreichendere Rechtsfolge als die Restrukturierungsrichtlinie vorgesehen. Art. 7 Abs. 5 RL 2019/1023 schreibt den Mitgliedstaaten unter anderem vor, sicherzustellen, dass es den Gläubigern nicht gestattet ist, aufgrund einer Vertragsklausel, die entsprechende Maßnahmen vorsieht, allein aus den Gründen gemäß Art. 7 Abs. 5 lit. a) bis lit. d) RL 2019/1023 Verträge zu kündigen. Der deutsche Gesetzesgeber hat über die Kündigung der Verträge hinaus, den umfassenderen Wortlaut der Beendigung von Vertragsverhältnissen gewählt. Nach diesem Wortlaut werden von Abs. 1 S. 1 Nr. 1 alle Vereinbarungen erfasst, deren Rechtsfolge die Vertragsbeendigung ist. Neben einer Vereinbarung über einen entsprechenden Kündigungsgrund ist daher auch die Vereinbarung über einen Rücktrittsgrund, eine Befristung und eine auflösende Bedingung erfasst.

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Nach Abs. 1 S. 1 Nr. 2 ist die Rechtshängigkeit der Restrukturierungssache oder die Inanspruchnahme von Instrumenten durch den Schuldner ohne Weiteres auch kein Grund für die Fälligstellung von Leistungen.

18

Nach Abs. 1 S. 1 Nr. 3 ist die Rechtshängigkeit der Restrukturierungssache oder die Inanspruchnahme von Instrumenten ohne Weiteres schließlich auch kein Grund für ein Recht des Vertragspartners, die diesem obliegende Leistung zu verweigern oder eine anderweitige Gestaltung des Vertrages zu verlangen. Von dem Leistungsverweigerungsrecht sind lediglich vertraglich vereinbarte Leistungsrechte umfasst. Gesetzliche Leistungsverweigerungsrechte nach §§ 273 und 320 BGB können in den Grenzen des § 55 weiterhin ausgeübt werden (vgl. hierzu die Kommentierung zu § 55).

19

Abs. 2 enthält das in der amtlichen Überschrift des § 44 genannte Verbot von Lösungsklauseln. Danach sind Vereinbarungen, die dem Abs. 1 entgegenstehen, unwirksam. Unwirksam sind also z. B. vertragliche Klauseln, die den Vertrag insgesamt oder einzelne Pflichten daraus allein unter die auflösende Bedingung stellen, das der Schuldner eine Restrukturierungssache anzeigt oder ein Instrument in Anspruch nimmt. Gleiches gilt für vertragliche Kündigungs-, Leistungsverweigerungs- und Vertragsanpassungsrechte für diesen Fall.

20

Eine solche unwirksame Klausel macht den Vertrag nach den allgemeinen Grundsätzen des § 139 BGB nicht insgesamt unwirksam. Dafür spricht bereits der Wortlaut des Abs. 1 S. 2, wonach nur die „Vereinbarungen“ unwirksam sind, während Abs. 1 von Vertragsverhältnissen und dem Vertrag des Schuldners spricht. Allein die Vereinbarung, die Abs. 1 entgegensteht, ist unwirksam. Das entspricht auch dem Sinn und Zweck der Sanierungsförderung durch das Restrukturierungsverfahren, denn die Unwirksamkeit des ganzen Vertrages hätte in der Regel negative Auswirkungen auf die Restrukturierungssache. Eine geltungserhaltende Reduktion der von Abs. 1 erfassten Klauseln kommt, wie bei § 119 InsO (BeckOK-InsO/Berberich, § 119 Rn. 38), nicht in Betracht.